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von Thomas Evans

Die Kunst des Engineerings: Mathe und Musik mit Steinunn Arnadottir

Roher LoFi-Sound – Steinunn Arnadottir, die Entwicklerin der Vintage-Sampler-Modi von MASCHINE, im Porträt.

Manche Features machen Schlagzeilen. Andere überzeugen einfach durch ihren tollen Klang. In dieser Reihe beschäftigen wir uns mit einigen der Funktionen, die eher unter dem Radar laufen, dafür aber umso beliebter bei Usern sind. Wie sind sie entstanden und wer hat sie erfunden?

 

Die HipHop-Community hat MASCHINE im letzten Jahrzehnt weltweit in ihr Herz geschlossen. Vor allem, weil sie das Feeling klassischer Hardware mit modernsten Produktionstechniken verbindet, zum Beispiel den flexiblen Sample-Chop-Funktionen. Mindestens genauso wichtig ist die Möglichkeit, legendäre Sampler von einst zu emulieren – mit den Vintage-Sampler-Modi.

 

Bevor wir uns näher mit diesem beliebten Feature befassen, wollen wir dir seine Entwicklerin vorstellen: Steinunn Arnardottir. Sie ist Director of Engineering bei Native Instruments und leitet ein Team von 50 Entwicklern, Engineers und Designern. Steinunn war schon von Beginn ihrer Zeit bei NI an in Projekte rund um das Digital Signal Processing (DSP) involviert – dazu zählen neben dem MASCHINE Transient Master auch die Vintage-Sampler-Modi, die im Mittelpunkt dieses Artikels stehen.

Genau wie für viele andere Native-Mitarbeiter war Musik für Steinunn immer ein zentrales Thema – und es ging früh damit los. „Mein Vater war oft in Plattenläden und nahm mich mit. Ich durfte mir dann meistens eine Platte aussuchen. Ich habe also schon mit sechs oder sieben Jahren angefangen, Platten zu sammeln. Seitdem liebe ich Musik. Mit neun begann ich dann, Klavier zu lernen, habe damals aber auch viel HipHop und elektronische Musik gehört. Das war ein gutes Kontrastprogramm zum traditionellen Unterricht. Ich kann mich noch an den Zeitpunkt erinnern, an dem ich das Interesse am Klavier verlor, und meine Lehrerin – die echt super war – alles dafür gab, mich dafür zurückzugewinnen. Sie fragte mich, was für Musik ich gerne spielen würde. Als ich ihr den Walkman-Kopfhörer überstülpte, sagte sie nur: Woah! Sie gab mir Beatles-Noten – und wir beschlossen gemeinsam, dass es vielleicht Zeit wird, getrennte Wege zu gehen“, sagt Steinunn lachend.

 

In ihren frühen Teenagerjahren wurde Musik dann zu Steinunns großer Leidenschaft. „Ich stand auf Funk, Disco und HipHop – ich begreife mich selbst als Teil der Cratedigger-HipHop-Generation. Wenn du damit beginnst, dich mit Samples zu beschäftigen, kommst du bald auf die Spur von Funk, Jazz und Blues. Für mich war das echte Recherche – schon damals. Ich analysierte, warum ich für bestimmte Genres interessierte, auf den granularen Ebenen von Samples und Texturen. Diese Neugier blieb bestehen, als ich damit begann, mich mit Signalverarbeitung auseinanderzusetzen.“

 

Steinunn war sich bewusst, dass sie gut in Mathe war, wollte aber unter gar keinen Umständen als Nerd rüberkommen. „Als Teenager liebte ich alles, was mit Mathe zu tun hatte – das hat aber eine Art der inneren Spannung in mir erzeugt. Mir fiel einfach nichts Cooles ein, was man damit machen kann. Planspiele für die Warteschlange in einem Hamburger-Restaurant und überhaupt alles, wofür man einen Schutzhelm braucht – mit sowas wollte man an der High School das Interesse an einem Ingenieurstudium wecken. Ich habe viel Respekt für alle, die das machen. Aber wenn ich damals gewusst hätte, dass es sowas wie Audio-DSP gibt, hätte mir das viele Sorgen über meinen weiteren Berufsweg erspart.“

 

Auch wenn Musik war schon immer Steinunns Lieblingshobby und größte Leidenschaft war – als Musikerin sah sie sich nie. Dass sich das Ingenieurwesen schließlich als Möglichkeit entpuppte, diese Leidenschaft zu kanalisieren, überraschte sie selbst. „Ich fühlte mich schon immer eher hinter den Kulissen wohl, war gut in Mathe und habe das auch gerne studiert. Aber als mir klar wurde, dass man im Bereich der Elektrotechnik Mathe und Musik mit Signalverarbeitung kombinieren kann, war das wie eine Erleuchtung. Das habe ich bei meinem Studium schon früh erkannt. Es fühlte sich an,als würde ich mein neues Ich finden.“

 

Nachdem Steinunn den Master-Studiengang Music Technology am Center for Computer Research in Music and Acoustics (CCRMA) der Stanford-Universität absolviert hatte, dauerte es nicht mehr lange, bis sie in Berlin landete. „Als Musikinteressierte kannte ich Native Instruments schon länger. Und als ich mich mit DJing und Produzieren beschäftigte, lernte ich die Produkte besser kennen. Am Ende meines ersten Music-Technology-Studienjahres beschloss ich, mich bei NI zu bewerben – da winkte mein Traumjob.“

 

Als sie bei Native schließlich einen Ferienjob klarmachte, wurde ihre Teenager-Begeisterung für HipHop-Samples plötzlich wieder wichtig. Ihre erste Aufgabe bestand darin, Effekte auf Basis von Vintage-Samplern zu entwickeln, der ikonischen Hardware hinter Oldschol-HipHop. Für MASCHINE.

 

„Für mich war das ein sehr bedeutsames Projekt“, sagt Steinunn und strahlt. „Denn für gewöhnlich beschäftige ich mich zu Beginn eines solchen Projektes immer mit der Kultur, die solche Geräte ermöglicht haben. Die Vintage-Sampler und ihr grobkörniger Sound haben die Musik, die mit ihnen gemacht wurde, natürlich signifikant beeinflusst.“

 

Man sagt ja gerne: Begrenzte Mittel fördern die Innovation. Für Vintage-Sampler wie den E-mu SP-1200 und die MPC60 von Akai gilt das unbedingt. Mit dem SP-1200 ließen sich maximal 2,5 Sekunden sampeln, was von Produzenten aber mit einem schlauen Trick umgangen wurde. Sie sampelten 33⅓-rpm-Platten einfach mit 45 rpm, um mehr Material in den Speicher des Geräts zu bekommen. Dann spielten sie das Sample viel langsamer ab. Zusammen mit der primitiven Pitch-Technologie resultierte diese Technik in einem ungeschliffenen Lo-Fi-Sound, der die Rap- und Dance-Musik der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre prägte.

„Wenn man sich mit den Produktionstools der Vergangenheit befasst, bekommt man einen enormen Respekt für die Engineers damals“, sagt Steinunn. „Zum Beispiel für jene, die mit Komponenten arbeiten mussten, deren Linearität beschränkt war. Oder, wie bei frühen digitalen Geräten, mit ganz wenig Speicherplatz. Sie mussten Workarounds finden, um die Limitierungen dieser Zeit zu umschiffen.“

 

Die Technologie entwickelte sich weiter, der Sound aus dieser Epoche aber blieb ikonisch. Und weil immer mehr Produzenten diese Oldschool-Magie in ihre Tracks integrieren wollen, steigen die Preise für Vintage-Hardware nach wie vor ins Unermessliche. Doch es gibt einen viel einfacheren und günstigeren Weg zu diesem Sound – dank Steinunn ist er Teil von MASCHINE.

 

Wo der besondere Sound dieser Vintage-Sampler nun wirklich herkommt, was ihn ausmacht, ist nur schwer in Worte zu fassen. Wie um alles in der Welt lässt sich so etwas Ungreifbares dann einfangen und in Software übersetzen? Steinunn verlässt sich dabei auf systematisches Engineering – und ihre Ohren. „Die frühen Sampler arbeiten mit Sample-Raten, die deutlich unter der des Audio-Materials liegen. Die Entwickler mussten also Wege finden, unerwünschte Alias-Effekte zu vermeiden, und gleichzeitig mit der viel niedrigeren Bit-Rate umgehen. Um diesen Sound nachzubilden, musste ich einen Algorithmus entwickeln, der das Audio-Signal degeneriert und durch Downsampling und Quantisierung so klingen lässt wie mit einer bestimmten Anzahl von Bits. Ich habe das klanglich und visuell untersucht – die Frequenz als Spektrogramm dargestellt und so weiter.“

 

Dieses methodische Vorgehen blieb bei Steinunns Kollegen natürlich nicht unbemerkt. „Ich saß am Schreibtisch, umgeben von Vintage-Samplern, und drückte wahllos auf ihre Pads. Mein Kollege Mickael LeGoff, ebenfalls im DSP-Team, arbeitete gleichzeitig an einem Gitarrentuner und zupfte irgendwelche Noten. Da kam Marcus Rossknecht, der Marketing-Chef für MASCHINE, zu uns rein – wir waren einander noch nicht vorgestellt worden. Er schaute uns kurz an und fragte sichtlich amüsiert, wer wir seien, was wir da machen und ob wir dafür bezahlt würden. Es muss für ihn sehr seltsam ausgesehen haben.“

Als das Projekt abgeschlossen war, wurden die Effekte als Teil von MASCHINE 1.5. veröffentlicht. In der HipHop-Community waren sie sofort ein Hit. „Für SP-1200, MP60 und all die anderen Sampler-Modi haben wir tolles Feedback bekommen“, sagt Steinunn sichtlich erfreut. „Viele bekannte HipHop-Künstler und -Produzenten meinten, dass dieses Feature sie zu echten MASCHINE-Fans machte. Das war so motivierend für mich – vor allem, weil meine Karriere gerade erst begonnen hatte.“

 

Und diese Karriere bei Native ging erfolgreich weiter. Heute ist sie Director of Engineering, genießt im gesamten Unternehmen den größten Respekt und hat an KONTAKT, GUITAR RIG, TRAKTOR und natürlich MASCHINE gearbeitet.

Und wie sieht Steinunn Arnardottir die Zukunft der Musiktechnologie? Welche Entwicklungen findet sie aktuell besonders spannend? „In den letzten Jahrzehnten ging es vor allem um immer mehr Rechenleistung. So wurden sehr anspruchsvolle Projekte möglich. Mit Commodity Cloud Computing haben wir jetzt ein weiteres neues Level erreicht. Das wird feldübergreifend sehr interessant werden.“

 

Trotzdem können Musiker erleichtert sein – die Roboter übernehmen nicht das Kommando, zumindest nicht aus Steinunns Sicht: „Ich befürchte nicht, dass die maschinelle Intelligenz die menschliche Kreativität bald ersetzen wird. Viel eher bin ich begeistert davon, wie wir solche Tools einsetzen können, um komplexe Zusammenhänge zu bündeln und mühsam-repetitive Aufgaben zu ersetzen. Generell interessiert mich vor allem die Frage, wie wir als Menschheit die zunehmend intelligente Technik nutzen werden, um uns gegenseitig zu helfen – nicht nur in der Musik.“

 

10 Jahre MASCHINE

Im Rahmen des zehnjährigen MASCHINE-Jubiläums 2019 haben wir zahlreiche weitere Stories, Interviews und Features veröffentlicht.

 

Fotos: Kasia Zacharko

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